Zustand und Prozess
Wenn in meiner Kindheit die Rede von der Welt war, sah ich mich auf einer gigantisch großen geheimnisvollen Erdkugel und träumte von entfernten Orten, die ich irgendwann einmal erblicken würde. Jahrzehnte später merkte ich, dass sich meine Vorstellung von der Welt verändert hatte, als sie mir nicht mehr riesengroß sondern klein und fragil vorkam. Wir nehmen sie wahr als Gegenstand unzähliger Berechnungen – Modelle erläutern Prognosen, Antagonismen bestimmen das Bild.
Was sagt uns die Weltmodell-Serie des Krefelder Bildhauers Lutz Weidler in Zeiten rapiden Wandels natürlicher Prozesse und Gegebenheiten?
Das große Thema in Weidlers Werken ist Wasser. Bereits in frühen Skulpturen und Bildern spielt es eine zentrale Rolle als Grundlage für Leben und der Fisch ist in vielen Varianten dessen sichtbares Symbol. Seine späteren Weltmodelle dagegen wirken stärker abstrahiert, dennoch lassen sich beim näheren Blick auf die quadratischen und rechteckigen Wandobjekte zwei Hauptformen erkennen, Insel und Flusslandschaft, die der Künstler plastisch und farblich variiert. So besitzt jedes Objekt eine ihm eigene suggestive Atmosphäre, welche die Lebensbedingungen vor Ort reflektiert. Wasser erscheint als eine Insel umspülendes Meer oder glatte monochrome Fläche, als verzweigter flacher Flusslauf im Kiesbett, träge nach langer Reise, und die Abwesenheit von Wasser als lehmiger Grund eines Sees, dessen Zuflüsse versiegt sind oder als trocken laufende Silhouette Afrikas. Mit Ausnahme des Afrika-Objekts, ironischerweise dem kleinsten Format der Serie, gibt es keine erkennbaren Abbildungen der realen Welt, obwohl es durchaus möglich scheint, dass solche Orte und Landschaften existieren. Fast immer sind es vom Menschen unberührt wirkende Gegenden, oft mit Felsformationen, deren Formen und Farben an Kalkstein, Granit oder Basalt erinnern. Zwischen den Felsen verlaufen Wasserwege durch Täler und Schluchten, verzweigen sich zu feinen Linien und verschwinden. Andere Linien kreuzen sich auf changierend beige-brauner Fläche – Tierpfade in einer Steppe?
Der gestalterische Rahmen bei Weidlers Insel-Objekten definiert sich einerseits durch die einheitliche Grundform der Küstenlinie und andererseits durch ihre quadratische Form und einheitliche Größe von 35 cm². Der Träger des Insel-Objekts suggeriert seine Verortung in einem jeweils anderen Gewässer, etwa einem steingrauen Meer bei aufziehendem Gewitter, einem algenreichen grün schimmernden See oder dem aufgewühlten Ozean irgendwo im hohen Norden. Aus einiger Entfernung erweckt die Farbe des Trägers zuweilen den Eindruck eines Sockels, auf dem die Insel ruht. Abgesehen vom Umriss, ist jedes Objekt singulär in Aufbau und Ausgestaltung. Ein fragiles Gebilde, zum größten Teil ausgehöhlt und durchlöchert, offenbar der Erosion preisgegeben, scheint nicht von dieser Welt. Oder könnte es der Schädelknochen eines Meerestiers sein? Die Oberfläche eines anderen Objekts ist von tiefen Kratern durchsetzt. Ihre hauchdünne olivgrüne Oberfläche weist schwefelgelbe Spuren auf. Ein Standobjekt zeigt eine Insel, die keine ist, sondern das Fragment eines pilzförmigen Gebildes in einer zur Steinwüste werdenden Landschaft, deren offensichtlicher Wassermangel diese Kuriosität hervorgebracht hat. Die unter der Oberfläche herabhängenden Gebilde, die im Schatten des Kuppelfragments noch gedeihen, erinnern an vertrocknete Epiphyten. Eine der großformatigen Plastiken des Künstlers gehört zu den Arbeiten, die im dargestellten Kontext eine Vorstellung von menschlichem Lebensraum zulässt. Zwar wirkt die Insel unbewohnt, doch weisen ovale Öffnungen im Weiß des teilweise mehrstöckigen Gebildes auf eine verlassene Behausung hin. Die vergleichsweise hohe Skulptur zeigt sechs scheibenartige Kalksteinfelsen unterschiedlicher Höhe, auf deren Oberfläche eine niedrige Vegetation den Eindruck natürlich entstandener Gründächer erweckt. Ich frage mich, ob es sich um eine vor langer Zeit verlassene Festung handelt, aber die Öffnungen im Fels deuten eher auf Arkadengänge hin. Vielleicht, denke ich, blicken wir hier in eine zukünftige Welt mit fundamental anderen Lebensbedingungen.
Weidler konkretisiert weder Inhalt noch Bedeutung seiner Objekte, sondern lässt das meiste unausgesprochen. Wie ein unzuverlässiger Erzähler zeigt er uns seine Modelle von oben, verweigert uns aber den Überblick, indem er nicht mehr als einen Ausschnitt preisgibt. Auch spielt der Künstler mit den Blickwinkeln, die er den Betrachtenden erlaubt. Wird das Objekt nicht in einer Vitrine ausgestellt, hängt es an der Wand. Wir stehen vor der Skulptur einer Insel und schauen doch von oben auf sie hinab, überblicken das Land und ein Stück des umgebenden Wassers. Das Relief wird jedoch erst in seiner Ganzheit sichtbar, wenn wir es von der Seite anschauen. Eine zusätzliche Perspektive bietet ein Spiegel, der im oberen Teil des Rahmens in 45 Grad Schräge angebracht ist. Wir können also simultan die Sicht des Vogels und die des Froschs einnehmen. Die Wirkung dieses Effekts lässt sich vermutlich mit der ungewohnten Gleichzeitigkeit der Objektbetrachtung erklären. Die Spiegelung des plastischen Bildwerks suggeriert Tiefe und Erfassbarkeit. Wandert der Blick hinunter zum im wörtlichen Sinn begreifbaren Objekt, entsteht das Paradox von Distanz und der damit einhergehenden Abstraktion. Subjektivität und Objektivität im Wechselspiel.
Weidler ordnet seine Weltmodelle erd- und epochengeschichtlich nicht zu. Wir können nie sicher sein, ob wir ein Modell aus der Vorzeit, eine Bestandsaufnahme der Gegenwart oder eine Zukunftsvision betrachten. Doch wäre es falsch zu denken, dass der Aspekt Zeit in seinen Werken unerheblich sei. Sie spielt eine Rolle in der Imagination, die er durch die spezifische Form- und Farbgebung eines Objekts nahe, jedoch nie festlegt. Die Offenheit für verschiedene Deutungsmöglichkeiten seiner Skulpturen wird verstärkt durch deren Maßstablosigkeit. Wir haben allenfalls eine vage Vorstellung von der Entfernung, aus der wir auf den abstrakten Ausschnitt der Landschaft blicken, die wir vor uns sehen. Erst durch die Interpretation konkretisiert sich das Bild, wobei eine entscheidende Rolle spielt, ob wir eine reale oder erfundene Landschaft zu erblicken glauben. Hinzu kommt das Ausschnitthafte vor allem seiner Flusslandschaften – plötzlich endet der Pfad, Waldstück und Hügel sind abgeschnitten, das Flussdelta führt ins Nichts – eine weitere Ambivalenz dieser komplexen Serie und vielleicht ein Hinweis auf die Vergeblichkeit des Versuchs, Natur und Landschaft in ihrer Totalität zu definieren. Unsere Wahrnehmung muss ausschnitthaft bleiben.
Das Bewusstsein einer gefährdeten Welt verändert unseren Fokus auf die Natur. Der Bildhauer Lutz Weidler verkündet in seinen Weltmodellen keine Gewissheiten, sondern macht Zustand und Wandel als Prozess sichtbar, wobei er Reales mit einem surrealen Blick auf Kommendes verbindet.
Karnag IX, 2023